taz 06.08.2008
Konflikt ums Ganze
KOMMENTAR VON BAHMAN NIRUMAND
Die Vereidigung des iranischen
Staatspräsident Mahmud Ahmadinedschad für
eine zweite Amtszeit kann nicht über den gegenwärtigen Zustand der Islamischen Republik hinwegtäuschen. Der Regierungschef
hätte nur genauer in den Plenarsaal zu
schauen und einen Blick nach draußen auf den Vorplatz des Parlaments zu werfen brauchen, um festzustellen, dass die mit
dem Wahlbetrug entstandene tief
Staatskrise längst nicht überstanden ist. Zum
ersten Mal seit der Gründung der Islamischen Republik hatten
Abgeordnete und Träger wichtiger Ämter
die Zeremonie boykottiert, und vor der Tür
trieben Ordnungskräfte und Milizen mit massiver Gewalt Demonstranten,
die "Nieder mit dem Diktator"
riefen, auseinander.
Revolutionsführer Ali Chamenei und
Ahmadinedschad waren nach den ersten
Demonstrationen nach der Wahl am 12. Juni offensichtlich davon ausgegangen, schon die Niederschlagung der
ersten Straßenproteste werde das Volk
einschüchtern und ihre Wortführer zum Schweigen bringen. Doch nun sind fast zwei Monate vergangen, und die
Protestbewegung ist nach wie vor
präsent. Selbst die brutalen Folterungen in den Gefängnissen, bei
denen zahlreiche Gefangene getötet
wurden, und die Schauprozess gegen Männer,
die teilweise Schlüsselpositionen im Staat innehatten, scheinen die Demonstranten nicht einschüchtern zu können.
Im Gegenteil, jede Maßnahme, die die
Machthaber bislang ergriffen, um Ruhe und Ordnung herzustellen, erwies sich als Eigentor. Inzwischen hat der
islamische Staat seine Legitimität und
Autorität selbst bei treuen Anhängern verloren.
Der Grund dafür, dass die Proteste
anhalten, liegt darin, dass sie all die Widersprüche, Macht- und Richtungskämpfe des Establishments
aufgedeckt haben. Die Proteste haben
den Iranern bis in die entfernteste Provinz zu erkennen gegeben, dass es den Staatsführern nicht um
Gerechtigkeit, Moral und den Islam
geht, sondern um Macht und die Durchsetzung ihrer ideologisch verbrämten Ziele.
Dabei zeigen die Proteste im Prinzip
nur die ideologischen Widersprüche auf,
die seit Gründung der Islamischen Republik bestehen. Auch nach dreißig Jahren geht es immer noch um das
Verhältnis zwischen einem islamischen
Staat, der sich den Anweisungen Gottes und des Korans unterordnet und einer Republik, die sich nach
dem Willen des Volkes richtet. Die
säkulare Opposition strebt seit Beginn der Islamischen Republik einen Systemwechsel und die Trennung
von Religion und Staat an. Doch erst
jetzt hat sie eine Gelegenheit gefunden, deutlich zu werden.
Innerhalb des islamischen Lagers, wo
eine grundsätzliche Einigkeit über den
Erhalt des Systems besteht, gibt es erbitterte Richtungskämpfe. Die Reformer legen mehr Gewicht auf das
Republikanische. Ihrer Meinung nach kann die Islamische Republik langfristig nur bestehen, wenn man
den vom Volk gewählten Organen mehr
Macht einräumt und die Macht der ernannten Instanzen einschränkt. Demnach müssten das Parlament und das Amt
des Staatspräsidenten gestärkt und im
Gegenzug die Kompetenzen des Revolutionsführers oder des Wächterrats verringert werden. Die
zweite Gruppe, die sich vor allem um
den Revolutionsführer Chamenei sammelt, will das bisherige System des Weljat-e-Faghieh (absolute Herrschaft der
Geistlichkeit) beibehalten, ja, die
Rolle des geistlichen Führers sogar stärken.
Während der Kampf zwischen diesen
beiden Gruppen schon seit Jahren geführt wird, schält sich seit Ahmadinedschads Amtsübernahme immer
deutlicher eine neue Richtung heraus,
die einen reinen islamischen Staat ohne den Klerus, vor allem ohne den traditionell orientierten Großajatollah
anstrebt. Die Idee geht auf den
Religionsphilosophen Ali Schariati zurück, der in den 1970er-Jahren im Iran durch seine These von einem
revolutionären Islam eine große
Popularität genoss. Dass die Großajatollahs in den vergangenen Jahren aus ihrer Gegnerschaft zu
Ahmadinedschad keinen Hehl gemacht haben, hat diesen ideologischen Hintergrund. Revolutionsführer Chamenei,
der stets Ahmadinedschad unterstützt
und auch bei der Wahlkrise den Rücken gestärkt hatte, scheint allmählich den Fehler bemerkt zu haben.
Die Einsicht kommt vermutlich zu spät.
Ahmadinedschad stützt sich auf die militärischen Kräfte und wird kaum im Zaum zu halten sein.
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