Der Untergang der deutschen
Sozialdemokratie ist schon so oft vorhergesagt worden, daß für sie längst der
Sinnspruch gilt: Totgesagte leben länger.
Das ist wie mit dem Kapitalismus. Gerade wurde wieder einmal sein Ende
vorhergesagt. Fröhlicher ist er noch niemals wiederauferstanden als unter
Karl-Theodor von und zu Guttenberg. Unsere Frage lautet: Könnte es auch mit der
Sozialdemokratie so sein? Falls ja: warum? Falls nein – warum nicht?
Mag sein, daß sich der Herr schneller erholt als das Gescherr. Es ist also
denkbar, daß die SPD am 27. September besonders schlecht aussehen wird. Unsere
Untersuchung könnte die Tränen, die dann vergossen werden, vorab trocknen,
falls sich herausstellen sollte, daß es danach auch wieder aufwärts gehen
könnte.
Oft wird behauptet, die Sozialdemokratische Partei Deutschlands sei seit dem 4.
August 1914 – Zustimmung zu den Kriegskrediten – keine sozialistische Partei
mehr. Daraus wurden zwei einander widersprechende Schlüsse gezogen:
Erstens: Als nichtsozialistische Partei habe die SPD keine Existenzberechtigung
mehr, und sie werde deshalb verschwinden, wenn nicht gestern, heute und morgen,
so doch am Jüngsten Tag. Eine solche Prophezeiung läßt sich ebenso wenig
verifizieren oder falsifizieren wie die Weissagungen der Zeugen Jehovas. Am
Jüngsten Tag werden wir über sie befinden.
Zweitens ist zu hören: Der Verzicht auf den Sozialismus habe der SPD das Leben
gerettet. Auch hier fällt der Beweis schwer. Unterstellen wir einmal, die
deutsche Sozialdemokratie sei a) nicht mehr sozialistisch und b) noch am Leben
(Letzteres dürfte immerhin stimmen), dann wissen wir doch nicht, ob die
Beibehaltung von Theorie und Praxis ihres marxistischen Erfurter Programms von
1891 ihr den Tod gebracht hätte. Wie sagte doch Eric Hobsbawm so treffend: »Der
Historiker kann immer erst wetten, wenn er weiß, welches Pferd gewonnen hat.«
Nichts sollte uns also daran hindern, eine dritte Vermutung zu riskieren. Sie
lautet: Die SPD ist noch sozialistisch. Dies habe ihr bis heute die Existenz
garantiert. Es sei deshalb sehr weise gewesen, daß sie sich auf Anraten von
Kurt Beck, Andrea Nahles und Wolfgang Thierse und gegen das Widerstreben von
Franz Müntefering, Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier in ihrem
Hamburger Programm 2007 unverändert den Demokratischen Sozialismus verordnet
habe, denn ohne diesen könne der Kapitalismus nicht auskommen.
Diese These ist das, was die Angloamerikaner »heroic« nennen: kühn. Sie soll
deshalb auf die Art und Weise behandelt werden, die in der Wissenschaft üblich
ist: Erst theoretisch, dann empirisch, in diesem Fall historisch.
Fragen wir zunächst: »Was ist
Kapitalismus?« Hier ein Vorschlag:
Kapitalismus ist die Funktionsweise von Gesellschaften, die auf der Erzielung
von Gewinn und der Vermehrung der hierfür eingesetzten Mittel (= Kapital) durch
den Kauf und Verkauf von Waren oder die Erbringung und den Verkauf von
Dienstleistungen beruhen.
Auf einem Bein allein steht es sich schlecht. Deshalb fügen wir gleich auch
eine Definition für Sozialismus hinzu. Also:
Sozialismus ist die Verfügung einer Gesellschaft über die Produktions- und
Zirkulationsmittel sowie die über Erbringung von Dienstleistungen durch den
planenden, organisierenden und verteilenden Einsatz von politischen
Institutionen. Ein Unterfall ist das gesellschaftliche Eigentum, das
verschiedene Formen annehmen kann: staatliches, kommunales oder
genossenschaftliches. Strukturiert dieses die gesamte Gesellschaft, wird sie in
der Regel als kommunistisch bezeichnet. Als sozialistisch kann aber auch eine
Ordnung gelten, in der Privateigentum in relevantem Maße weiterbesteht, aber
gesellschaftlich geplant und organisiert ist. Die politischen Formen, in denen
sozialistische Gesellschaften ihre Verfügung über Produktion, Dienstleistungen
und Verteilung wahrnehmen, können sehr verschieden sein: von zahlreichen
Varianten der Demokratie bis zur Despotie.
Es zeigt sich, daß Sozialismus nicht unbedingt etwas Wahres, Gutes und Schönes
sein muß. Es handelt sich um eine Regulationsweise, mehr nicht. Sie kann auch
sehr scheußlich sein, muß aber nicht. Wer sie ausschließlich positiv will,
meint damit die »Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die
Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«. So steht es im Kommunistischen
Manifest. Eine solche Ordnung ist gewiß von allen Wohlmeinenden anzustreben.
Sie ist auch sozialistisch organisiert. Aber dies ist lediglich die notwendige,
keineswegs hinreichende Voraussetzung für den »Verein freier Menschen«, von dem
Marx im Fetischkapitel des »Kapitals« so hübsch schreibt.
Fassen wir Sozialismus aber nur technisch – und das müssen wir, denn sonst
könnten wir nicht von Sozialdemokratie reden –, gibt es eine Schnittmenge mit
dem Kapitalismus. Das muß auch so sein, denn einen rein privatwirtschaftlichen
Kapitalismus hat es nie gegeben.
Diese liebliche Produktionsweise funktioniert nämlich nach zwei Prinzipien,
einem dominanten und einem untergeordneten, für seinen Fortbestand aber
gleichwohl unentbehrlichen:
Das erste ist der Wettbewerb auf dem Markt.
Das zweite ist die politische Regulierung dieses Marktes, mithin also das, was
wir eben »Verfügung einer Gesellschaft über die Produktions- und Zirkulationsmittel
sowie die über Erbringung von Dienstleistungen durch den planenden,
organisierenden und verteilenden Einsatz von politischen Institutionen« =
Sozialismus genannt haben. Kapitalismus ohne einen Mindestbetrag eines solchen
»Sozialismus« ist nicht vorstellbar. Er bleibt Kapitalismus allerdings nur so
lange, wie dieser Sozialismus ihm untergeordnet – subaltern – ist.
Dieser Subaltern-Sozialismus ist eine Art Gesundheitspolizei des Kapitalismus.
So weit im Kapitalismus Regulierungsbedarf entsteht, ergibt sich daraus ein
Betätigungsfeld für sozialdemokratische Parteien.
Ein Monopol hierauf haben sie allerdings nicht. Immer wieder sind es in der
Vergangenheit auch Konservative und sogar Kapitalisten gewesen, die sich um die
nötigen Korrekturen gekümmert haben. 1795 schon setzten aristokratische
englische Friedensrichter eine Art Kombilohn, verbunden mit Einschränkung der
Freizügigkeit für Arme, durch. Sie wollten damit die Fabrikanten ärgern, die
keinen Zuzug von Arbeitskräften mehr hatten: den Lohnzuschuß gab es nur in der
Heimatgemeinde der unterstützten Arbeiter. 1847 setzten die Konservativen im
britischen Unterhaus sogar den Zehnstundentag durch – wieder gegen die
liberalen Industriellen. Allerdings hatte es vorher viel Druck von einer militanten
Massenbewegung gegeben: den Chartisten. Ähnlich funktionierte es mit Bismarck
und den ersten Sozialversicherungen: Er wollte die Sozialdemokratie überflüssig
machen, indem er selber das Nötige veranlaßte. Als der große Sozialreformer
Konrad Adenauer sich 1957 die absolute Mehrheit sicherte, indem er rechtzeitig
vor der Wahl die umlagefinanzierte Rente durch den Bundestag brachte, erweckte
er wieder einmal den Eindruck, für solche Wohltaten brauche man die SPD nicht.
Wie im Falle Bismarcks war das auch diesmal geflunkert. Hätte es im 19. und im
20. Jahrhundert keine sozialdemokratische Partei und keine Gewerkschaften
gegeben, wären die Sozialversicherungen wohl unterblieben – sehr zum Schaden
des Kapitalismus, der, um nicht unterzugehen, sich seine Arbeiterbewegung dann
wohl selbst hätte erfinden müssen.
Das gab es tatsächlich schon. Als Franklin D. Roosevelt ab 1933 die Große
Depression bekämpfte, benötigte er dazu nicht nur Big Government (einen
Interventionsstaat) und Big Business (Kartellierung des Kapitals), sondern auch
Kartellierung der Arbeitskraft durch neue Gewerkschaften. Darum kümmerte sich
dann seine Frau Eleanor.
Diese Tatsachen lesen sich wie
eine Art Lebensversicherung für die Sozialdemokratie. Aber man muß sie zugleich
in ihrem historischen Zusammenhang sehen. Bismarck gewährte die Kranken-,
Alten- und Unfallversicherung nicht aus Angst vor der sozialdemokratischen
Reichstagsfraktion, sondern vor der Revolution. Daß er die Sozialistische
Arbeiterpartei Deutschlands (so hieß das damals) für einen umstürzlerischen
Haufen hielt, war wohl ein bißchen paranoisch. Denkbar ist, daß sich Bismarck
nicht vor einer real drohenden Revolution fürchtete, sondern vor einer
eingebildeten. Immerhin: es wirkte.
Ähnlich war es mit Adenauer 1957: Er hatte damals erklärt, ein Wahlsieg der SPD
werde der Untergang Deutschlands sein – deshalb Rentenreform. Was aber wäre
dieser Untergang Deutschlands gewesen? Antwort: nicht ein Bundeskanzler Erich
Ollenhauer, sondern Walter Ulbricht, der angeblich nur darauf wartete, auf
einem Panzerwagen der Roten Armee bis an den Rhein vorzustoßen. Adenauer hielt
sich für den besten Garanten zur Verhinderung dieses Unglücks, und er wußte:
dazu brauchte man nicht nur die Wiederbewaffnung, sondern auch
Montanmitbestimmung und dynamisierte Rente. Weil er die SPD für zu lasch hielt
im Kampf gegen den Kommunismus (zu Unrecht übrigens), mußte sie von der Macht
ferngehalten werden, indem man ihre ureigenen Anliegen klaute und selbst
verwirklichte.
Das heißt: die Sozialdemokratie benötigt, um unentbehrlich zu sein, nicht nur
einen Kapitalismus, der sich mit ihrer Hilfe ein bißchen selbst kontrolliert,
sondern auch eine Revolution, die ihn bedroht und vor der sie ihn rettet. Wo
eine solche nicht in Sicht ist, wird diese Partei entbehrlich. Wieder ist hier
auf die USA zu verweisen, in denen zwar seit 1776 eine permanente bürgerliche
Revolution stattfindet, aber eine sozialistische nie in Sicht war. Deshalb ist
die Sozialdemokratie dort auch ausgefallen. Ein solcher Zustand könnte sich
zukünftig auch in Europa anbahnen.
Dies ist der erste Grund, der ein etwaiges Ende der Sozialdemokratie vermuten
läßt.
Zeitgenössische Illustration zur Bismarckschen Sozialgesetzgebung 1883/84, einem Zugeständnis an die organisierte Arbeiterbewegung |
Er reicht aber nicht aus. Es ging
in der Vergangenheit nämlich nicht nur um Revolutionsverhinderung. Denken wir
an Nordeuropa. Anders als in Deutschland 1918 war dort von Umsturzgefahr nie
etwas zu sehen. Schweden und Finnland hielten sich aus dem Kalten Krieg ganz
heraus, Dänemark und Norwegen sind zwar in der NATO, waren aber nie von der
Furcht vor einem Kommunismus so beherrscht wie die Bundesrepublik. Dort saß
nicht die DDR als dritter Verhandlungspartner am Verhandlungstisch. Dennoch
gibt es dort starke Sozialdemokratien. Warum?
Die scheinbare Ausnahme Nordeuropa ist nur die besonders deutliche Ausprägung
einer Regel, die auch für das übrige Westeuropa gilt. Ihre Ursache ist der
Übergang des Konkurrenzkapitalismus in den Organisierten Kapitalismus seit dem
Ende des 19. Jahrhunderts. Der Kartellierung des Kapitals entsprach die
Kartellierung der Arbeitskraft in Gewerkschaften. Letztere waren eng mit den
nun zu Massenorganisationen heranwachsenden sozialdemokratischen Parteien
verbunden. Das entscheidende Wort ist: Organisation. Sie war eine gemeinsame
Eigenschaft von Kapital und Arbeit über hundert Jahre lang: von 1870 bis nach
1970.
Den größten Grad an Organisiertheit erreichten die bürgerlichen Gesellschaften
in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. Wir stoßen hier auf eine etwas
peinliche Tatsache: Sowohl 1914–1918 als auch 1939–1945 wies der Kapitalismus
nicht nur ein Höchstmaß an Organisiertheit, sondern auch an politischer
Verfügung über die Produktions- und Zirkulationsmittel auf, auch wenn diese
noch in Privateigentum blieben. Der Staat war Auftraggeber für die
Rüstungsindustrie (wie in Friedenszeiten auch), und er mußte viel Planung
aufwenden. Als mitten im Ersten Weltkrieg die Wohnungsbewirtschaftung
eingeführt wurde, sprach man sogar vom »Kriegssozialismus«. Dieser stützte sich
auf die enge Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften: im
»Kriegshilfsdienstgesetz« organisierte man gemeinsam die Zufuhr der
Arbeitskraft. Sogar allererste Ansätze einer Mitsprache wurden zugestanden. Die
Kommunen hatten ihre eigene Form der Kriegswirtschaft. Zum Bespiel richteten
sie eigene Landwirtschaftsbetriebe für die Versorgung der Stadtbevölkerung mit
Milch ein. Es war ein solches Ausmaß an gemeinwirtschaftlicher Organisation im
Kapitalismus entstanden, daß die Unternehmerverbände in den zwanziger Jahren
ihre Privatisierungskampagnen als »Kampf gegen die Kalte Sozialisierung«
organisierten.
Im Zweiten Weltkrieg zeigte sich allerdings in Deutschland, daß staatlicher
Zugriff auf Produktion, Zirkulation, Dienstleistung und Verteilung auch ohne
Kooperation mit der Arbeiterbewegung möglich war. In Großbritannien dagegen
wurde diese einbezogen: Churchill nahm Labour 1940 in sein Kriegskabinett auf,
der Liberale Beveridge entwarf einen künftigen Wohlfahrtsstaat, 1945 gewann die
Arbeiterpartei die Wahl und nahm in den Folgejahren umfangreiche
Verstaatlichungen vor, ohne daß der Kapitalismus dadurch angetastet wurde. Bis
in die siebziger Jahre hinein beruhte das Gedeihen der bürgerlichen
Gesellschaft auf der engen Kooperation zwischen organisiertem Kapital und
organisierter Arbeit. Einigermaßen einvernehmliche Verwaltung des Wachstums bei
steigenden Reallöhnen garantierte zugleich die Nachfrage und war gut für die
Profite.
Seit dreieinhalb Jahrzehnten ändert sich das allerdings. In dem Maße, in dem
Kapital sich aus der Produktion in die Zirkulation und Spekulation zurückzog,
war es weniger organisiert als früher: Es konkurrierte statt dessen an der
Börse und fragte jetzt nur noch vermindert Arbeitskraft nach. Seit Beginn der
Massenerwerbslosigkeit zersetzte sich auch die Organisation der Arbeit. Mit Big
Labour ist es allmählich vorbei.
Dies ist der zweite Grund, der ein etwaiges Ende der Sozialdemokratie vermuten
läßt.
Franz Müntefering weist gern
darauf hin, daß die SPD die älteste deutsche Partei ist. In der Tat: Die
massenhafte Organisation des deutschen Proletariats wurde von der bürgerlichen
Gesellschaft als Bedrohung wahrgenommen. Nur die katholische Zentrumspartei
konnte da noch mithalten. Danach gab es dann auch reaktionäre
Massenorganisationen bis hin zu den Faschisten. Sie alle organisierten sich als
Parteien. Deren Wirken ist auf die Eroberung oder doch zumindest Beeinflussung
des Staates gerichtet.
Die Massenparteien waren zugleich Mediensysteme. Mit ihrer illegalen Presse
hielten sich die Sozialdemokraten schon unter dem Sozialistengesetz am Leben.
Partei war Apparat, ähnlich organisiert wie der Staat, den es auf die eigenen
Zwecke zu lenken galt.
Letzteres war allerdings eine Illusion. Wer sich organisierte, um mittels des
Staates auf das Kapital einzuwirken, begab sich in einen Instanzenzug mit
umgekehrter Wirkung. Die Organisationen dienten letztlich der Integration der
Volksmassen in die kapitalistische Gesellschaft. Erfüllten sie diesen Zweck
nicht, waren sie entweder verboten oder völlig marginalisiert. Gewiß hatte die
Integration der Massen auch für das Kapital seinen Preis: es mußten
Zugeständnisse gemacht werden, die als Erfolg einer Interessenvertretung von
unten dargestellt werden konnten. Das Kapital herrschte indirekt: mit Hilfe des
Staates und der Parteien.
Dies ist offenbar nicht mehr nötig. Marktradikalismus bedeutet auch Reduktion
des Staates auf einige wenige Funktionen, z. B. Militär und Polizei. Als
wirtschaftspolitischer Interventions- und als sozialpolitischer
Verteilungsapparat wird er geschleift. Damit verlieren die Parteien, die mit
seiner Hilfe Einfluß für ihre Klientel nehmen wollten, an Bedeutung. Dies
trifft sie unterschiedlich. CDU/CSU und FDP waren immer in höherem Maße
Repräsentant(inn)en von Kapitalmacht als Interessenvertreterinnen breiter
Volksmassen. Diese ihre Funktion werden sie beibehalten. Die SPD war stärker
auf den Staat angewiesen als sie. Dessen Bedeutungsverlust demontiert sie mit.
Waren sozialdemokratische und gewerkschaftliche Apparate früher Teil eines
Systems von kommunizierenden Röhren zwischen Kapital und Arbeit zugunsten der
Bourgeoisie, so hat sich Herrschaft inzwischen vereinfacht: Über seine
Thinktanks, Stiftungen und Medien wendet sich das Kapital nun direkt ans weitgehend
unorganisierte, ausschließlich auf Empfang geschaltete Volk. Italien ist in
diesem Sinn das fortgeschrittenste Land Europas: Seit den letzten Wahlen gibt
es dort keine sozialdemokratische Partei mehr. Veltronis Partito Democratico
nennt schon mit seinem Namen sein Vorbild: die Democratic Party der USA, die
aber – ebenso wie die dortigen Republikaner – keine Partei im bisherigen
europäischen Sinn ist. Obama mag eine sozialdemokratische Person sein, aber er
benötigt keine sozialdemokratische Partei. Über das öffentlich zelebrierte
Sammeln von Unternehmerspenden zeigen sich Wahlsieger in den USA nicht nur als
abhängige Variablen von Kapitalmacht, sondern sie machen dies auch zum Ausweis
ihrer Politikfähigkeit. Rechts von der Mitte ist dies noch deutlicher, wiederum
in Italien: statt einer Partei sehen wir da einen Medienkonzern, der die Massen
effizient organisiert.
Schröder hatte erkannt, daß die Bundesrepublik auf diese Weise regiert werden
kann. Vielleicht wußte er sogar, daß das für die SPD nur kurze Zeit gutgehen
kann. Sie ist noch zu sehr eine Partei mit Apparat und – besonders lästig – mit
Mitgliedern, die sich da und dort sogar etwas Eigenes denken. Als
Vermittlungsinstanz ist sie durch die Bertelsmann-Stiftung und die Initiative
Neue Soziale Marktwirtschaft in großen Teilen zu unterlaufen und zu
übertölpeln.
Dies ist der dritte Grund, der ein etwaiges Ende der Sozialdemokratie vermuten
läßt.
Es bleiben aber Restfunktionen
von Parteien, schließlich stehen sie im Grundgesetz. Steinmeier und Steinbrück
haben gelernt, was schon die Autoren des Godesberger Programms wußten: Das
deutsche Kapital weiß das hiesige flexible Parteiensystem zu schätzen. Wer hier
auf den letztlich gleichen programmatischen Grundlagen konkurriert wie CDU/CSU
und FDP, spielt als Sozialdemokratie zwar per Saldo in der zweiten Liga, kann
aber immer wieder einmal zum Zuge kommen, wenn diese beiden Hauptparteien
zwischendurch an Effizienz verlieren. Als Adenauer sich in der Politik der
Stärke und Erhard sich in einem unzeitgemäßen Wirtschaftsliberalismus verrannt
hatten, konnte die SPD gewinnen, weil sie nützlichere Varianten der gleichen
Politik anbot. Ähnlich 1998: Schröder war geeigneter zum Abbau des Sozialstaats
als Kohl. Mag sein, daß eine lange Amtszeit der jetzigen Kanzlerin oder doch
ihrer Partei bevorsteht. Dies bedeutet irgendwann Erstarrung. Dann wird die
zweite Mannschaft – die SPD – wieder einmal ihre Chance bekommen.
Dies ist der Grund, weshalb ein Ende der Sozialdemokratie nicht zu erwarten
ist.
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