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Übergang und Untergang

In Iran ist der Aufstand nicht vorbei, im Gegenteil: Das System und seine Strategie der großen Lüge werden scheitern

 

Von Issa Saharkhiz


Bei dem folgenden Text handelt es sich um ein Dokument aus dem Untergrund: Issa Saharkhiz, einer der führenden Journalisten in Iran, ist wenige Tage nach der Präsidentschaftswahl vom 12. Juni vor den Sicherheitskräften aus seiner Wohnung in Teheran geflohen. Am Wochenende wurde er nun verhaftet. Er saß bereits vier Jahre in Haft und wurde für fünf Jahre mit Berufsverbot belegt. SZ


Wie erwartet, hat der Wächterrat in Zusammenarbeit mit den Organen der Miliz und des Geheimdienstes den Schritt vom "sanften Putsch" zu einem "brutalen Putsch" getan und das bestätigt, was der religiöse Führer, Ajatollah Chamenei, einige Stunden nach den Wahlen vom 12. Juni für wünschenswert hielt. Eine Tatsache unterschied diese Wahlen, deren Ergebnis nach weniger als zwölf Stunden verkündet wurde, von den früheren: Die darauf folgenden Ereignisse verselbständigten sich, sie nahmen spontanen Charakter an. Es waren Wahlen, an denen breite Schichten der Bevölkerung teilnahmen, insbesondere die Jugend, die überwiegend zum ersten Male wählte. Wahlen, bei denen die Kandidaten der Opposition nun nicht gewillt waren, sich einem Wahldiktat zu beugen oder gar die Aufsicht über den Umgang mit den Wählerstimmen "in die Hand Gottes zu legen".


Dies hatten der religiöse Führer und die "Partei der Kaserne", wie wir mittlerweile das Bündnis aus Revolutionswächtern, Milizen und Geheimdiensten nennen, nicht vorhergesehen. Sie glaubten, dass auch diese Posse so ausgehen würde wie früher, dass auch dieses Mal alles reibungslos verlaufen würde, dass das Ergebnis eines solchen Wahldiktats im Befehlston bestimmt, aber im demokratischen Gewand präsentiert werden könne, und dass die Reformer alles ohne Widerstand hinnehmen würden. Sie gingen nach dem Motto vor: "Lüge so dreist, dass keiner es wagt, nicht daran zu glauben!" Deshalb ließen sie Mahmud Ahmadinedschad, der eine lange Erfahrung in diesen Dingen hat, exklusive Fernsehsendungen bestreiten, um dabei so überdimensionierte Lügen loszuwerden, dass sie jedermann die Sprache verschlagen sollten. Sie verbreiteten Statistiken, die im Reich der Märchen liegen.


Die Machthaber aber haben sich verkalkuliert. Sie rechneten nicht damit, dass sich die Nation über diese Finten und Manöver nur noch belustigen würde - und dass Ahmadinedschad dadurch sein Gesicht gründlich, endgültig und bis an sein Lebensende verlieren würde, ob als - von oben eingesetzter - Staatspräsident, ob im Inland oder im Ausland. Die natürliche und vernünftige Reaktion der Menschen und eine sich enorm ausbreitende "Grüne Welle" der Opposition haben die Machthaber erschreckt. (Anm. d. Red.: Grün war die Symbolfarbe der Opposition bei den Protesten.) Schnell sahen sie ein, dass sie das Land nicht einmal mehr eine Woche kontrollieren würden, wenn die Protestwelle anhalten oder sich gar ausweiten würde. Daher beschloss die Führung in Abstimmung mit der "Partei der Kaserne", die Flucht nach vorne anzutreten, auch nach der Wahl die Strategie der großen Lüge beizubehalten und den Abstand zwischen Ahmadinedschad und seinen Herausforderern auf mehr als zehn Millionen Stimmen zu beziffern.


Dies war der Beginn eines elenden Weges des Systems. Denn erstens bestanden beide Kandidaten des Reformlagers - Mir Hussein Mussawi und Mehdi Kharrubi - auf ihrer Forderung nach Annullierung der Wahlen und Neuwahlen. Und sie bestanden darauf trotz des massiven Drucks einer Sonderkommission des Nationalen Sicherheitsrates, wohin sie zur Einschüchterung einbestellt worden waren, und trotz direkter Drohungen des Ministers für die Geheimdienste. Zweitens leistete die 30 Millionen Menschen umfassende Opposition spontan bemerkenswerten Widerstand. Um ihren Protest gegen den religiösen Führer und die "Partei der Kaserne" zu zeigen, griffen die Menschen auf Parolen der Revolution von1979 zurück. Sie riefen "Allahu akbar!", Gott ist groß, wie einst im Aufstand gegen den Schah. Damit wurden die Machthaber praktisch entwaffnet. Sie griffen hart durch, zu Maßnahmen, die wohl erst an ihrem Anfang stehen.


Warum spreche ich von Maßnahmen, die erst am Anfang stehen? Zum ersten Mal seit 30 Jahren weigern sich zwei gewichtige Kandidaten hartnäckig, befohlene Ergebnisse zu akzeptieren, dem Verdikt des religiösen Führers zu folgen, "diese Angelegenheit endlich zu beenden" und dem vermeintlichen Wahlsieger zu gratulieren. Mussawi und Karrubi sowie viele andere Persönlichkeiten, die alle eine engere Beziehung zu Ajatollah Chomeini hatten als Ajatollah Chamenei, stellten sich zusammen mit einer Reihe weiterer Persönlichkeiten offen gegen die Diktatur der Rechtsgelehrten und den von ihnen eingesetzten Präsidenten.


Der Konfrontationskurs der Machthaber gegen eine Mehrheit der Bevölkerung wird die Legitimität des Systems und seiner Führung als Ganzes in Frage stellen - und dies über die Tatsache hinaus, dass sich die Bevölkerung standhaft weigert, die Wahlergebnisse zu akzeptieren. Darüber hinaus ist die Legitimität des politischen Systems im Ausland so gründlich beschädigt, dass die Mehrheit der Länder auf der Welt, insbesondere die großen Demokratien, nicht bereit sein werden, Ahmadinedschad als den vom iranischen Volk gewählten Vertreter anzuerkennen. Sie können sich die Anerkennung Ahmadinedschads gar nicht erlauben; andernfalls gingen sie das Risiko ein, die öffentliche Meinung Irans und die ihrer eigenen Bürger gegen sich aufzubringen. All dies aber wird zur Folge haben, dass die Herrschenden versuchen werden, mit Hilfe von Maßnahmen der Unterdrückung an der Macht zu bleiben.


Unsere Freunde, insbesondere jener Teil der leidenschaftlich kämpfenden Jugend, bei dem sich Skepsis über den entschlossen eingeschlagenen Weg eingeschlichen hat, dürfen jetzt nicht glauben, dass alles vorbei sei. Sie sollten wissen, dass dies erst der Anfang ist und dass sie einen neuen Weg in der Geschichte geebnet haben, der ihnen ihre Zukunft sichert. In Nietzsches "Also sprach Zarathustra" heißt es wunderbar: "Oh meine Brüder, was ich lieben kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang ist und ein Untergang. Und auch an euch ist vieles, das mich lieben und hoffen macht. Dass ihr verzweifeltet, daran ist viel zu ehren. Denn ihr lerntet nicht, wie ihr euch ergäbet, ihr lerntet die kleinen Klugheiten nicht. Heute nämlich wurden die kleinen Leute Herr: Die predigen alle Ergebung und Bescheidung und Klugheit und Fleiß und Rücksicht und das lange Und-so-weiter der kleinen Tugenden."

Issa Saharkhiz, 55, war UN-Korrespondent der iranischen Nachrichtenagentur Irna und arbeitete in zehn Zeitungen, die mittlerweile alle verboten wurden. Übersetzung: Hamid Ongha. Foto: oh


Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.152, Montag, den 06. Juli 2009 , Seite 2

 

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