Der
gefährlichste Kritiker Teherans
Im schiitischen Islam
spielten Fatwas immer schon eine große Rolle. Auch Groß-Ayatollah Montaseris
aktuelles Rechtsgutachten könnte weitreichende Auswirkungen haben
Dass Fatwas, also Rechtsgutachten islamischer Gelehrter, im schiitischen Islam
eine wichtige Bedeutung haben, weiß man im Westen seit dem Jahr 1989. Damals
nannte der iranische Revolutionsführer Groß-Ayatollah Chomeini in einem
Rechtsgutachten den britischen Schriftsteller Salman Rushdie einen Ketzer.
Diese Fatwa, die einem Mordaufruf gleichkam, wurde seinerzeit von
Groß-Ayatollah Montaseri, der damals als Nachfolger Chomeinis vorgesehen war,
heftig kritisiert: Man solle das Buch verurteilen, aber seinen Verfasser dürfe
man nicht zum Apostaten erklären. Als er dann auch noch in einer Stellungnahme,
die die britische BBC zitierte, sagte: "Die Welt gewinnt den Eindruck, als
seien wir in Iran nur damit beschäftigt, Menschen umzubringen", und damit
auf die Massenhinrichtungen in den iranischen Gefängnisses des Jahres 1989
anspielte, wurde Montaseri aller Ämter enthoben.
Wer sich Gott zum Feind macht
Seitdem ist er der gefährlichste Kritiker der Islamischen Republik. Denn
ungeachtet seiner oppositionellen Haltung genießt Montaseri als Theologe das
größte Ansehen unter allen Klerikern Irans und ist gemeinsam mit Groß-Ayatollah
Sistani im Irak die höchste religiöse Autorität der schiitischen Welt.
Millionen Gläubigen gilt er als "Quelle der Nachahmung". Zudem hat er
eine junge moderate Theologengeneration beeinflusst, zu der auch Mohsen Kadivar
gehört, einer der wichtigsten Reformdenker Irans, der zurzeit an der
Duke-University in den USA lehrt, und auf dessen Fragen Montaseri in der Fatwa
antwortet, die wir auf dieser Seite abdrucken.
Montaseri weiß auch genau um die Schwachstellen derer, die heute an den
Schalthebeln der Macht sitzen. Revolutionsführer Ali Chamenei, der 1989
anstelle von Montaseri Chomeinis Nachfolger wurde, soll nicht über die dazu
eigentlich erforderliche Qualifikation verfügen. Hinzu kommt, dass Montaseri
als der eigentliche Erfinder der velayat-e faqih gilt, der Herrschaft des
Rechtsgelehrten, der offiziellen Staatsdoktrin der Islamischen Republik.
Fatwas haben in der Geschichte der Schia schon immer eine große Rolle gespielt.
Nicht selten haben sie eine Massenbewegung ausgelöst. Die sogenannte
Tabak-Fatwa zum Beispiel: Weil er die Übertragung des Tabakmonopols an einen
Briten für einen Ausverkauf des Landes hielt, untersagte Ayatollah Shirazi im
Jahre 1891 den Iranern das Rauchen. Die Iraner stellten kollektiv das Rauchen
ein, sogar die Frauen des Schahs hörten damit auf. Schließlich musste der Schah
das Monopol zurückkaufen.
Wie bei Fatwas üblich, reagiert Montaseri auf die Anfrage eines Gläubigen. Als
"Quelle der Nachahmung" muss er sich dazu äußern, was zu tun sei,
wenn . . . So funktionieren Fatwas. Mohsen Kadivar hat Montaseri gefragt, wann
der Herrscher seine Legitimität verliert und was dann zu tun sei. Grundlegend
für die Fragen wie für die Antworten sind verschiedene Prämissen der schiitischen
Jurisprudenz, vor allem der Herrschaftslehre.
Grundsätzlich gehen die Schiiten davon aus, dass bis zur Wiederkehr des 12.
Imams, der im 9. Jahrhundert in die Verborgenheit gegangen ist, jedwede
Herrschaft illegitim ist. Nur die Imame können eine legitime Herrschaft
errichten. Aus dieser Haltung folgte eine weitgehende Abstinenz der
schiitischen Geistlichkeit von der Politik. Dass die Rechtsgelehrten selber
herrschen sollen, wie Chomeini forderte, ist bis heute eine
Minderheitenmeinung.
Allerdings gab es auch für viele quietistische Theologen einen Punkt, an dem
sie sich verpflichtet fühlten, politisch aktiv zu werden: Wenn die
Ungerechtigkeit des Herrschers offenkundig geworden ist. Weltliche Herrschaft
ist zwar nicht legitim, aber sie ist akzeptabel, solange sie gerecht ist. Ist
sie allerdings nicht gerecht, dann ist sie Usurpation und Verrat an Gott, den
Imamen und dem Volk. Die beiden Begriffe, die hier von Montaseri und
grundsätzlich immer im schiitischen Herrschaftsdiskurs einander gegenübergestellt
werden, sind "adl", Gerechtigkeit, und "jaur",
Unterdrückung. Dass Gerechtigkeit herrschen muss, ist fast die einzige Norm,
die die schiitische Herrschaftstheorie aufgestellt hat. Sie folgt damit dem,
was Imam Ali, der Begründer ihrer Glaubensrichtung, im siebten Jahrhundert
verkündete. In einem Schreiben, das als Charta der schiitischen Regierung gilt,
seinem Regierungsauftrag an seinen Gouverneur in Ägypten, schrieb er: "Sei
gerecht gegenüber Gott und dem Volk. Wer immer die Diener Gottes unterdrückt,
macht sich Gott zum Feind und ebenso jene, die er unterdrückt hat." Das
Schlimmste, was einem Volke widerfahren kann und was den Zorn Gottes
unwiderruflich hervorruft, seien Unterdrückung und Tyrannei über die Geschöpfe
Gottes.
Hinzu kommt: Der Gründungsmythos der Schia ist der Kampf gegen die ungerechte
Herrschaft, gegen diejenigen Muslime, die sich nach Auffassung der Schiiten
durch Lug und Betrug der Herrschaft bemächtigt haben. Das ist mit Usurpation,
"ghasb" gemeint, die als eine der größten Sünden gilt. Jedem Schiiten
ist der Kampf des Prophetenenkels Hussein ibn Ali gegen die Übermacht des
Kalifen Yazid präsent. Die Erinnerung an die Schlacht von Kerbela im heutigen
Irak, die im Jahre 680 stattfand, ist Bestandteil des schiitischen Glaubens mit
einem bis in heutige Zeiten hinein kaum zu überschätzenden identitätsstiftenden
Moment. Jeder Schiit, so heißt es in der Volksfrömmigkeit, muss in seinem Leben
mindestens eine Träne um Husayn geweint haben, und die Erinnerung an die
Schlacht von Kerbela wird jedes Jahr aufs Neue mit Prozessionen und Nächten der
Andacht aufrechterhalten und in den Gläubigen wachgerufen. Jedem Schiiten
obliegt die Pflicht, gegen die Usurpatoren der Macht zu kämpfen und eine
gerechte Herrschaft anzustreben.
Aufgrund dieser Verpflichtung hat die schiitische Geistlichkeit immer wieder
ihre apolitische Rolle aufgegeben: Der Sturz des Schah-Regimes, das Chomeini
als ähnlich ungerecht gebrandmarkt hatte wie Montaseri dies heute mit dem
Regime Chameneis tut - in seiner Fatwa zitiert er gegen Ende einen Satz, den
Chomeini über den Schah sagte -, ist hierfür nur eines von mehreren Beispielen.
So unterstützten zu Beginn des 20. Jahrhunderts viele Geistliche die
konstitutionelle Bewegung Irans. Mittels einer Verfassung wollten sie an Stelle
der absolutistischen Macht des Herrschers eine Art konstitutioneller Monarchie
etablieren, in der der König zwar als Autorität anerkannt ist, aber eine
dienende Funktion hat.
Achund Chorasani ging sogar noch weiter: Seit 1906 galt er als einer der
prominentesten Unterstützer der konstitutionellen Revolution. Nachdem Mohammad
Ali Schah die Verfassung, die die Bewegung gerade mühsam erkämpft hatte, wieder
ausgesetzt hatte, erließ Chorasani eine Fatwa: Er erklärte, dass der Gehorsam
gegenüber dem Schah und das Zahlen von Steuern an seine Regierung unislamisch
seien. Chorasani gilt heute als Begründer oder Wegbereiter der Demokratie im
schiitischen Denken, denn von ihm stammt das historische Diktum: In der Zeit
der "großen Verborgenheit" gehört die Regierung dem Volk allein.
Theokratie ohne Theologen
In dieser Tradition steht auch Groß-Ayatollah Montaseri. In seinem Buch
"Traktat über die Rechte", das als Essenz seiner politischen
Philosophie zu betrachten ist, schreibt er, dass die Regierung dem Volk
Rechenschaft schuldig sei; dass sie vom Volk gewählt und kontrolliert werden
muss; dass sie nur für einen bestimmten Zeitraum gewählt werde und dass sie
nicht in einer Hand konzentriert sein dürfe. Vor allem wiederholt er das alte
schiitische Diktum, dass die Regierung der Diener des Volkes sei und nicht
umgekehrt. Der politischen Despotie wird eine klare Absage erteilt, ebenso wie
der göttlichen Legitimation der Regierung: Wenn die Regierung nicht zur
Zufriedenheit des Volkes handelt, verliert sie ihre Legitimität.
Wenn Montaseri hier nun den Sturz der iranischen Regierung religiös
rechtfertigt, dann könnte auch diese Fatwa auf lange Sicht ein Todesurteil
sein: für die Diktatur in Iran. Denn viele Geistliche sind Montaseri bereits
gefolgt oder werden dies bald tun. So haben soeben mit den Ayatollahs
Bayat-Zanjani und Ghaffari zwei weitere hochrangige Kleriker die Regierung in
Teheran für illegitim erklärt. Nachdem der Revolution das Volk abhanden
gekommen ist, scheint die Theokratie nun auch ihre Theologen zu verlieren.
KATAJUN AMIRPUR
Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.159, Dienstag, den 14. Juli 2009 , Seite 11
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