Tyrannei und Ungerechtigkeit

"Eine Obrigkeit, die auf Knüppeln basiert, mordet, verhaftet und wie im Mittelalter und mit stalinistischen Methoden foltert": Die Fatwa von Groß-Ayatollah Hossein-Ali Montaseri


Mohsen Kadivar, am 14. Tir 1388


(6. Juli 2009, Anm. d. Red.)


Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Erbarmers.


Friede sei mit Ihnen!


Zum Jahrestag der Geburt Alis, des Herrn der Gottesfürchtigen, des Führers der Unterdrückten, des Vorbildes aller Gerechten, des Fürsten der Freiheitsliebenden - tausendfach gesegnet sei er -, übersende ich dem gottergebenen Gelehrten meine herzlichen Glückwünsche. Wir begehen den gesegneten Feiertag zu einer Zeit, da, nach friedlichen Protesten gegen das von der iranischen Regierung verübte Unrecht, Dutzende ergebene Anhänger jenes Großen Imams Ali zu Märtyrern geworden, Hunderte verletzt und Tausende verhaftet worden sind. Wie traurig, dass all diese Verstöße gegen die legitimen Rechte des Volkes im Namen des Islam und des Schiitentums begangen wurden. Von Ihnen habe ich gelernt, dass der beste Weg, gegen Tyrannei und Ungerechtigkeit anzugehen, die Verbreitung der Grundsätze des Koran, der Gebote des Propheten und der Lehren der Imame ist. Angesichts der gegenwärtigen Lage droht der letzte Funken der Hoffnung in den reinen Herzen der jungen Generation zu verlöschen, einer Generation, die unter der von ihrer Obrigkeit im Namen des Islam begangenen Grausamkeit leidet, die das Schiitentum nur noch als Aberglauben kennt und deren Geist so viel Lügen, Falschheit und Verrat erfahren hat, dass er erschöpft und verletzt ist. Nun steht sie erwartungsvoll vor Ihrer Tür, der Tür der Hoffnung für das unterdrückte iranische Volk. Niemals wird sie vergessen, wie Sie stets mutig und mit aller Kraft für die Wiedererlangung der geraubten Rechte des Volkes gestritten haben. Erweisen Sie nun diesem geringsten Ihrer Schüler die Gunst und beantworten Sie folgende Rechtsfragen, auf dass diese Finsternis zerrissen werde und ein Lichtstrahl der Hoffnung durchbreche. Es sind dies die Fragen, die das aufrechte und unterdrückte iranische Volk heute seinen religiösen Führern stellt.


1) Ein Amt bekleiden zu dürfen, dem gegenüber die Menschen vom Gesetz her zu Gehorsam verpflichtet sind, hängt von der Erfüllung gewisser Voraussetzungen ab. Dazu gehören Gerechtigkeit, Vertrauenswürdigkeit und Führungsfähigkeiten sowie die Unterstützung durch die Mehrheit des Volkes. Wenn nun eine dieser Voraussetzungen nicht länger erfüllt wird, und die Allgemeinheit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wiederholt solcher Eigenschaften an den Amtsinhabern gewahr wird, die den genannten entgegenstehen, wie ist dies zu beurteilen?


Groß-Ayatollah Hossein-Ali Montaseri, in der Heiligen Stadt Qom,


am 19. Tir 1388 (11. Juli 2009)


Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Allerbarmers.


"Diejenigen, die Unrecht tun, werden erkennen, welche Wendung es mit ihnen nehmen wird." (Koran 26:227)


Zunächst möchte ich Ihren Gruß und Ihre Glückwünsche erwidern. Eine ausführliche Behandlung Ihrer Fragen erfordert mehr Zeit, es folgen aber einige allgemeine Bemerkungen dazu:


Zu Frage 1): Sobald eine der genannten Voraussetzungen nicht länger erfüllt wird, führt dies zwangsläufig und unmittelbar zum Verlust der Autorität, und die (von jener Instanz) erlassenen Befehle besitzen keine Verbindlichkeit mehr - unabhängig davon, ob eine Absetzung (der Amtsträger) bereits erfolgt ist, oder nicht. Die Unterstützung durch die Mehrheit ist eine Voraussetzung für die Legitimität von Autorität und Führerschaft. Der Verlust dieser Unterstützung bedeutet, dass für einen solchen Amtsträger nicht länger die Unschuldsvermutung gilt. Vielmehr muss er das Volk zufriedenstellen, indem er verlässliche Beweise und vernünftige Argumente dafür erbringt, dass er der Religion und dem Gesetz nicht zuwiderhandelt, dass er die Rechte der Menschen wahrt, und dass er nach wie vor die Loyalität der Mehrheit genießt.


Frage 2) Welche Pflicht besteht der Scharia zufolge im Umgang mit solchen Amtsträgern, die fortwährend gegen die Gebote der Religion verstoßen?


Wie bereits gesagt: Sie dürfen ihr Amt nicht länger ausüben. Sofern sie jedoch mit Gewalt und Betrug versuchen, sich im Amt zu halten, müssen die Menschen zum Ausdruck bringen, dass sie ihre Legitimität nicht anerkennen. Sie müssen deren Absetzung auf diejenige Art und Weise fordern, die am effektivsten ist und so wenig Opfer wie möglich fordert. Dies ist eine allgemeine Pflicht, der alle Menschen, unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Position, und entsprechend ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten, unterliegen, und der sich niemand mit einem Vorwand entziehen darf. Besonders aber sind die Gebildeten gefordert. Sie müssen sich einigen, Parteien und Organisationen gründen sowie private und öffentliche Versammlungen abhalten, um so ihre Mitmenschen aufzuklären und ihnen den Weg aufzuzeigen. Einer der letzten Ratschläge des "Gebieters der Gläubigen" lautete: "Lasst nicht davon ab, das Gute zu gebieten und das Schlechte zu verbieten. Sonst werden die Schlimmsten unter euch über euch herrschen."


Frage 3) Wenn die Amtsträger eine der folgenden schweren Sünden begehen und darin verharren, kann dies als Beweis dafür gelten, dass sie nicht länger die "Herrschaft der Gerechtigkeit" üben, sondern stattdessen die der "Tyrannei" (und somit ihre Legitimation verlieren, Anm. d. Red.)?


- Der Befehl, Unschuldige zu töten


- Der Befehl, Unschuldige auf der Straße mit Waffen und brutaler Gewalt einzuschüchtern und zu terrorisieren


- Freiheitsberaubung und das Erpressen falscher Geständnisse


- Lüge und falsches Zeugnis


- die Verleumdung derer, die durch Proteste Gerechtigkeit erwirken wollen, als "ausländische Spione und Söldner"


- Missachtung der Wahl und der Ermahnungen wohlmeinender Ratgeber und Gelehrter


- Schädigung des Islams, indem der Welt ein besonders grausames, irrationales, aggressives, abergläubisches und tyrannisches Bild dieser Religion, insbesondere des Schiitentums vermittelt wird.


Diese Sünden zu begehen und darin zu verharren, ist eines der deutlichsten und unzweifelhaftesten Merkmale von Tyrannei und Ungerechtigkeit. Wenn nicht diese, welche Merkmale sollte die Allgemeinheit dann als unzweifelhafte Belege für Frevel und Ungerechtigkeit betrachten? Es ist auch offensichtlich, dass jedes Vergehen, insbesondere solche wie die genannten, sofern sie im Namen der Religion, der Gerechtigkeit oder des Gesetzes erfolgen, doppelten Schaden anrichten, und als noch größeres Unrecht zu werten sind. Demzufolge ziehen sie eine höhere diesseitige und jenseitige Strafe nach sich. Denn solchen Sünden haftet zusätzlich zu ihrem eigenen Übel auch das der Täuschung sowie der Schädigung des Ansehens der Religion, der Gerechtigkeit und des Gesetzes an. In Fällen, wo die Amtsträger ihr Vorgehen für gerecht und legal halten, eine große Menge des Volkes aber das Gegenteil glaubt, ist der Beurteilung durch gerechte, unparteiische und von beiden Seiten anerkannte Richter zu folgen.


Frage 4) Darf man sich auf das Prinzip "Der Erhalt des Systems ist die höchste Pflicht" berufen, um gegen die legitimen Rechte des Volkes zu verstoßen und zahlreiche moralische Grundsätze und klare religiöse Gebote, wie etwa Wahrhaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit, mit Füßen zu treten? Wenn ein Amtsträger seine persönlichen Interessen mit dem Erhalt des Systems verwechselt und auf dieser Fehleinschätzung beharrt, welche religiöse Pflicht ergibt sich daraus für die Gläubigen?


Das System hat keinen Wert an sich, und sein Erhalt ist keine unbedingte Pflicht, insbesondere dann nicht, wenn mit "System" eine Person gemeint ist. Die zitierte Aussage bezieht sich auf ein System, das zur Gerechtigkeit beiträgt und den Rahmen für die Verwirklichung religiöser und rationaler Gebote schafft. Außerdem ist es offensichtlich, dass ein islamisches System nicht mit Tyrannei und mit Maßnahmen gerettet oder gestärkt werden kann, die im Widerspruch zum Islam stehen.


Eine Obrigkeit, die auf Knüppeln, auf Ungerechtigkeit und Rechtsverletzungen basiert, die sich der Wahlstimmen bemächtigt und diese manipuliert, die mordet, verhaftet und wie im Mittelalter und mit stalinistischen Methoden foltert, die ein Klima der Unterdrückung schafft, Zeitungen zensiert, Kommunikationswege stört, die gebildete Elite der Gesellschaft unter absurden Vorwänden inhaftiert und falsche Geständnisse erpresst, eine solche Obrigkeit ist aus religiöser Sicht und in den Augen eines jeden Vernünftigen zu verurteilen und besitzt keinen Wert.


Das aufrechte Volk Irans weiß sehr wohl, wie es um solche gefälschten Geständnisse und Fernsehinterviews, wie man sie aus der Geschichte faschistischer und kommunistischer Staaten kennt, bestellt ist: Die Verantwortlichen haben sie von seinen gefesselten Söhnen unter Folter und Drohung erpresst, nur um das eigene Unrecht zu verschleiern und den Charakter der friedlichen, legalen Proteste falsch darzustellen. Die Verantwortlichen sollen wissen, dass jeder, der an solchen gefälschten Geständnissen beteiligt ist, eine Sünde und ein Verbrechen begeht, und dass das religiöse wie das weltliche Gesetz eine Strafe dafür vorsieht. Das Land gehört dem Volk, nicht irgendjemandem. Das Volk trifft die Entscheidung, die Amtsträger haben im Dienste des Volkes zu stehen. Das Volk muss die Möglichkeit haben, sich frei zu versammeln und sein Recht in schriftlicher und mündlicher Form zu verteidigen. Der Schah hat erst dann "den Ruf der Revolution des Volkes vernommen", als es schon zu spät war (im November 1978, Anm. d. Red.). Es bleibt zu hoffen, dass die gegenwärtigen Amtsträger es nicht so weit kommen lassen.


Frage 5) Welches sind die Belege dafür, dass eine tyrannische Herrschaft gegeben ist? Und wenn sie als solche erkannt wird, wie haben dann die erlauchten Gelehrten und die Gläubigen in ihrer Gesamtheit zu reagieren?


Die Ungerechtigkeit ihrer Herrschenden wird von einer Gesellschaft deutlich wahrgenommen. Und jeder Mensch hat angesichts von Tyrannei und Unterdrückung, seinen Fähigkeiten und seinem Wissen entsprechend, eine Verantwortung. Es ist nicht denkbar, dass es jemanden nach Gerechtigkeit verlangt, er aber nichts unternimmt, um ihr Geltung zu verschaffen; dass er etwa Angst hat, zögert und die Dinge vor sich herschiebt, oder sich und andere mit der eigenen Ohnmacht herausredet. Angst vor einem Geschöpf zu haben, bedeutet, Gott etwas zur Seite zu stellen. Zu zögern oder Ausflüchte zu suchen, bedeutet, vom Geraden Pfad abzuirren und andere in die Irre zu führen. Das Leben der Heiligen Imame bestand im Einsatz für gesellschaftliche Gerechtigkeit. Hätten sie sich ausschließlich mit den religiösen Pflichten des Einzelnen befasst, wäre ihnen nicht so viel Unrecht widerfahren. Gott hat mit den Gelehrten, insbesondere mit den Religionsgelehrten einen festen Bund geschlossen, dass sie niemals im Angesicht von Tyrannei schweigen dürfen. "Gott verlangt von den Gelehrten, dass sie niemals Ruhe geben, solange ein Tyrann satt ist und ein Unterdrückter hungrig" (Imam Ali). Diese Pflicht zu erfüllen, bringt großen Lohn, fordert aber auch einen hohen Preis.


"Wähnen die Menschen etwa, sie würden alleingelassen, wenn sie bloß sagen: ,Wir glauben", und nicht geprüft werden? Wir haben schon die Früheren geprüft. Gott kennt wahrlich die Aufrichtigen und Er kennt die Lügner." (Koran 29:2-3)


So Gott will, werden Sie Erfolg haben.


Deutsch von Armin Eschraghi


Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.159, Dienstag, den 14. Juli 2009 , Seite 11

 

[zurück]