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Datum: 20. Juli 2009 12:11
 Iran in der deutschen Presse vom 17.-20.07.2009
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Iranische Kompromisse
Hunderttausende gehen auf die Straße, doch Ex-Präsident Rafsandschani bleibt vorsichtig

Von Rudolph Chimelli

Die Perser lieben Dramatik: Bei den Trauerzügen für den vor 1300 Jahren bei Kerbela gefallenen Propheten-Enkel Hussein klirren alljährlich die Ketten. Es fließen Tränen und echtes Blut, und die Verwünschungen der Mörder sind so tief empfunden wie der Schmerz der Gläubigen. Aber wenn das Passionsspiel vorüber ist, sind alle wieder am Leben. Auch die Krise um die Präsidentenwahl, die zu heftigen Protesten im Land und zum Tod von mehreren Dutzend Menschen führte, hat in der politischen Klasse keine Opfer gefordert. Alle sind weiter aktiv.

Expräsident Haschemi Rafsandschani, der Feind des umstrittenen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad, hat der Opposition durch seine große Freitagspredigt allerdings wieder Auftrieb und erhöhte Legitimität verschafft. Zugleich gingen erstmals seit über drei Wochen wieder Hunderttausende Demonstranten auf die Straße und skandierten: "Ahmadinedschad, tritt zurück!" Manche riefen auch: "Tod dem Diktator!"

Rafsandschanis Auftritt in der Teheraner Universität wurde aber, entgegen allen Gepflogenheiten, nicht vom Fernsehen übertragen. Denn das iranische Fernsehen hört auf den geistlichen Führer Ali Chamenei, den Protektor des Staatschefs. Zugleich wurde Rafsandschani für seine Freitagspredigt heftig kritisiert, so etwa von Ahmadinedschads Mentor, dem reaktionären Ayatollah Mohammed Jasdi. Dieser warf Rafsandschani vor, dass er die Rolle der Wahl überbetone und dafür die Souveränität Gottes zu gering einschätze. Bezeichnenderweise streitet der Ayatollah den Wahlschwindel nicht mal mehr ab. "Stimmen allein schaffen keine Legitimität", sagt Jasdi.

Rafsandschani wiederum blieb bei aller Fundamentalkritik wenig konkret. Er stellte das Resultat der Wahl nicht direkt in Frage und verlangte "eine freie und offene Debatte". In der Expertenversammlung und im Obersten Schlichtungsrat, die beide von ihm geleitet werden, sucht er nach einer Mehrheit für einen Kompromiss, um die Krise zu lösen. Der 86-köpfige Expertenrat könnte Chamenei absetzen. Doch dazu wäre eine Zweidrittelmehrheit erforderlich, die Jasdi und Gleichgesinnte jederzeit verhindern können.

Nach Rafsandschanis Vorstellungen soll eine Koalition von Reformpolitikern und angesehenen Klerikern dem geistlichen Führer sichtbare Konzessionen abverlangen, um die Volksmeinung zu beruhigen. Diese Zugeständnisse könnten sichtbar werden, wenn Ahmadinedschad seine Regierung neugebildet hat. Nach dem jetzigen Stand der Verhandlungen soll der unterlegene Präsidentschaftskandidat Mir Hussein Mussawi nicht zu einer eventuellen Kompromiss-Riege gehören. Ahmadinedschad selber hat bereits versprochen, dass er mit "besseren Ministern" als in den vergangenen vier Jahren regieren wolle.

Mit seiner ersten Neuernennung hat sich der Präsident aber eine Menge Ärger eingehandelt - und dies ausgerechnet bei den Konservativen. Ahmadinedschad berief Esfandiar Rahim Maschae zum Ersten Vizepräsidenten: Dieser ist nicht nur ein Berater des Staatschefs, sondern hat seine Tochter auch mit Ahmadinedschads Sohn verheiratet. Nur diese Verwandtschaft schützte ihn vergangenes Jahr davor, in die Wüste geschickt zu werden, nachdem er Iran als "Freund des israelischen Volkes" bezeichnet hatte. "Es ist zwingend notwendig, die Ernennung Maschaes zu beenden", forderte das konservative Blatt Keyhan, das Sprachrohr Chameneis. Und prompt zog sich Maschae am Sonntag laut dem staatlich finanzierten iranischen Sender PressTV zurück, nur drei Tage nachdem Ahmadinedschad ihn nominiert hatte.

Während regimenahe und oppositionell gesinnte Geistliche miteinander ringen, verhalten sich die Revolutionsgarden, die Pasdaran, derzeit auffallend still. Viele Iraner fürchten, sie könnten als lachende Dritte und neue Herren Irans aus dem Streit hervorgehen.

Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.164, Montag, den 20. Juli 2009 , Seite 4

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Financial Times Deutschland vom 20.07.2009
Iran: Murren in der Machtelite

Erstmals seit Wochen stimmen die Nachrichten aus dem Iran wieder ein
wenig hoffnungsfroh: Tränengas und Knüppel der Regierungsmilizen haben
es nicht geschafft, die Proteste gegen die gefälschte Präsidentenwahl
vollständig zu unterdrücken. Auch wenn das Regime mit aller Härte gegen
sie vorgeht, die Oppositionsbewegung kämpft weiter.

Besonders wertvoll für die Gegner des obersten geistlichen Führers Ali
Chamenei und seines Zöglings Präsident Mahmud Ahmadinedschad ist dabei
die Unterstützung einflussreicher Kleriker. Zwar benötigt jede
Reformbewegung auch den Rückhalt der Straße, um Druck auf die Regierung
aufbauen zu können. Angesichts der Bereitschaft der Milizen,
Demonstrationen blutig niederzuschlagen, lässt sich der Kampf der
Regimegegner aber nicht auf der Straße gewinnen. Entschieden wird er in
den Hinterzimmern des politischen und religiösen Establishments von Teheran.

Vor diesem Hintergrund sind die Ereignisse des Wochenendes im Iran ein
enorm wichtiger Schritt für die Opposition. Der mächtige Ex-Präsident
Akbar Haschemi Rafsandschani hat sich bei seinem ersten öffentlichen
Auftritt seit der umstrittenen Präsidentenwahl Mitte Juni in einer
Deutlichkeit gegen das Regime gewandt, wie man sie sich vorher
allenfalls erhoffen konnte. Mit Rafsandschani und Großayatollah Ali
Montaseri, einem der einflussreichsten Theologen im Iran, der die
Legitimität des obersten Führers bereits offen infrage gestellt hat,
verfügt die Opposition jetzt über sichtbare Unterstützung prominenter
Vertreter aus dem Zentrum der Machtelite.

Den Regimegegnern spielt dabei in die Hände, dass sich unter Chamenei
auch Teile der Geistlichkeit von der Staatsführung entfremdet haben.
Selbst wenn innerhalb des Klerus anders als in der Reformbewegung kaum
jemand von westlichen Verhältnissen träumt, beginnt die weitverbreitete
Unzufriedenheit mit der Diktatur der Religiösen, das Regime von innen zu
destabilisieren. Die Welt darf weiter auf einen Wandel im Iran hoffen.


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Frankfurter Rundschau 20.07.2009
Ajatollahs in Aufruhr
VON ELISABETH KIDERLEN

In einem islamischen System erhält die Regierung ihre Legitimität allein
durch Gott, nicht durch das Volk." Kurz und bündig reagierte der
ultrafundamentalische Ajatollah Yazdi, Ziehvater von Ahmadinedschad, auf
die mit Spannung erwartete Freitagspredigt von Akbar Haschemi
Rafsandschani . Der mächtige Vorsitzende des Expertenrats, der den
Obersten Geistigen Führer ernennt und - zumindest theoretisch - auch
absetzen kann, hatte von der Kanzel herab von der "politischen Krise"
gesprochen, in der das Land sich nach den Wahlen befinde. Doch während
der Streit unter den Geistlichen an Heftigkeit zunimmt, geht das Volk
schon eigene Wege.

"Da das Fernsehen nicht objektiv berichtet und es die Frauen sind, die
am meisten Fernsehen schauen, rufen wir sie dazu auf, die Produkte aller
Firmen, die in den staatlichen Medien werben, zu boykottieren." Die
Aktivistinnen der Frauenkoalition für die Gleichheit nehmen das
Fernsehen als staatlich finanzierten Propagandaapparat für Mahmud
Ahmadinedschad ins Visier.

Die höheren Weihen für diese Kritik hatte ihnen der ehemalige
Freitagsprediger aus Isfahan, Ajatollah Taheri, gegeben. Der hatte
öffentlich die Frage nach der Unparteilichkeit der Medien gestellt:
"Hätte Revolutionsführer Khomeini erlaubt, dass das öffentliche Eigentum
der Muslime nur durch einen Kandidaten benutzt werden kann und das ohne
Einschränkung? Hat die Religion dies erlaubt?"

Kurz darauf kursierte ein Aufruf, während einer TV- Rede von Mahmud
Ahmadinedschad in allen Haushalten elektrische Geräte mit hohem
Energieverbrauch einzuschalten, um Stromausfälle zu provozieren. Es wird
erzählt, dass die staatliche Energiebehörde deshalb während der Rede in
vielen Städten die Straßenbeleuchtung abgestellt hätte und es dennoch zu
Stromunterbrechungen gekommen sei.

Der Prozess der Delegitimierung staatlicher Institutionen und der
wachsenden Respektlosigkeit ihren Vertretern gegenüber schreitet voran.
Jetzt brechen Politiker und Geistliche auch über die Außenpolitik des
Landes moralisch den Stab. Über Unterdrückung der Muslime in China zu
schweigen, sei eine "nicht zu vergebende Sünde", erklärte Großajatollah
Sanei. "Statt dass die chinesische Führung die Probleme der chinesischen
Muslime löst, unterdrückt sie ihren Protest."

Und Ajatollah Hassan Nouri Hamedani sekundierte: Während Irans Regierung
sich mit immer schrilleren Worten über "den Mord an einer ägyptischen
Frau in Dresden durch einen deutschen Staatsbürger" empöre, sage sie
kein Wort über die 150 muslimischen Uiguren, die in China getötet
wurden. Es dürfe keine unterschiedlichen Reaktionen auf die
Unterdrückung westlicher und östlicher Muslime geben. Viele Ajatollahs
scheuen nicht mehr davor zurück, China, den wichtigsten Verbündeten des
Regimes, anzugreifen - und damit die iranisch-chinesische Kooperation
indirekt als Zusammenschluss von Diktatoren zu denunzieren.

Die geistige Elite des Landes ist in Aufruhr. Und Aufruhr herrscht auch
auf den Straßen. Einst wurde in vorrevolutionären Zeiten alle 40 Tage
gegen den Schah protestiert. Inzwischen wird von der Oberste Geistige
Führer immer öfter mit dem Schah verglichen.

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Risse in der  iranischen Führung
Vizepräsident tritt zurück / Rafsandschani trifft Kleriker in Maschad

F.A.Z. FRANKFURT, 19. Juli. Der iranische Vizepräsident Maschaie ist
nach heftiger Kritik an seiner Berufung zurückgetreten. Dies meldete am
Sonntag der staatliche Fernsehsender Press-TV. Maschaie war erst am
Freitag von Präsident Ahmadineschad in sein neues Amt berufen worden.
Fundamentalistische Kleriker hatten seine Berufung kritisiert, weil
Maschaie vor einem Jahr geäußert hatte, Iran sei "ein Freund des
israelischen Volkes" und in den Vereinigten Staaten lebe "eines der
besten Völker der Welt". Maschaie gilt - trotz seiner Einstellungen -
als enger Vertrauter Ahmadineschads; seine Tochter ist mit dessen Sohn
verheiratet.

Der frühere iranische Präsident Rafsandschani traf am Sonntag mit
führenden Klerikern in Maschad zu Beratungen zusammen. Am Freitag hatte
er beim Freitagsgebet in Teheran scharfe Kritik an der Regierung geübt
und sich mit der Opposition solidarisiert. Rafsandschani sagte, Iran
stecke in einer Krise. Die Ansprache löste in der politischen und
religiösen Führungselite des Landes einen erbitterten Streit aus.
Diejenigen, die den amtierenden Präsidenten Ahmadineschad unterstützen,
zeigten sich entrüstet über Rafsandschani. Er habe das Gebet zur
Unterstützung von Oppositionsführer Mussawi missbraucht.

Die Opposition zweifelt die Niederlage Mussawis in der Präsidentenwahl
vor fünf Wochen weiter an und spricht von Fälschung. Ermutigt durch den
Auftritt Rafsandschanis, waren am Freitag in der Hauptstadt wieder
hunderttausend Anhänger der Opposition zu neuen Protesten auf die Straße
gegangen. Dabei kam es auch wieder zu Zusammenstößen mit der Polizei und
zu Festnahmen. Der religiöse Führer Chamenei hat sich in der Kontroverse
um den Wahlausgang hinter Ahmadineschad gestellt. Das Freitagsgebet
Rafsandschanis scheint die Theorie eines Machtkampfes zwischen diesem
und Chamenei zu bestätigen.

Mehr als drei Wochen nach seiner Festnahme ist am Sonntag der letzte
noch inhaftierte Angestellte der britischen Botschaft gegen eine Kaution
von fast 100 000 Dollar (71 000 Euro) freigekommen. Ihm und acht anderen
Botschaftsangehörigen wurde vorgeworfen, an den Protesten gegen das
Regime beteiligt gewesen zu sein.

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Forderung nach Sanktionen gegen den Iran
Außenpolitiker von CDU und SPD: Wegen des Vorgehens gegen Demonstranten
sollte das Regime keine EU-Visa bekommen.
Von Hans Monath

Berlin -  Einen Tag nach dem Wiedererstarken der Oppositionsbewegung im
Iran haben sich Außenpolitiker von Union und SPD für gezielte
EU-Sanktionen gegen solche Iraner ausgesprochen, die für Gewalt gegen
Demonstranten verantwortlich sind. "Wir sollten den Iran, der mit den
friedlichen Demonstranten sehr brutal umgeht, so behandeln wie
Weißrussland", sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im
Bundestag, Ruprecht Polenz (CDU), dem Tagesspiegel. Dort sei Staatschef
Lukaschenko ähnlich brutal gegen die Opposition vorgegangen. Die EU habe
sehr gezielt Reisebeschränkungen gegen weißrussische Verantwortliche
erlassen, die sich in besonders grausamer Weise an der Niederschlagung
von Protesten beteiligt hätten.

Polenz forderte, die EU solle nun auch iranische Verantwortliche ächten.
"Solche Personen wollen wir in näherer Zukunft in der Europäischen Union
nicht mehr sehen", meinte er: "Sie sollten keine Visa mehr erhalten." In
der EU wird seit etlichen Wochen über solche Einreisesperren gegen
Iraner debattiert.

Einen Monat nach der Niederschlagung der Proteste in Teheran hatte sich
die Oppositionsbewegung am Freitag mit neuer Kraft zurückgemeldet.
Ex-Präsident Haschemi Rafsandschani nutzte das Freitagsgebet in Teheran,
um den Umgang der Regierung mit den Protesten scharf zu kritisieren. Der
Kleriker forderte die Freilassung verhafteter Demonstranten.

Auch SPD-Außenpolitiker Rolf Mützenich sprach sich für gezielte
EU-Sanktionen aus. "Wir sollten die Personen aus dem Regime treffen, die
alles tun, um die Oppositionsbewegung zu unterdrücken", sagte er dieser
Zeitung. Nicht nur die EU, sondern die Staatengemeinschaft müsse sich
die Forderung Rafsandschanis nach Freilassung der verhafteten
Demonstranten und Oppositionellen zu eigen machen und Druck auf Teheran
ausüben. Zudem müsse gegenüber dem Regime die Forderung aufrechterhalten
werden, das offensichtlich manipulierte Ergebnis der Präsidentenwahl zu
korrigieren.

Mützenich sagte, seit Rafsandschanis öffentlicher Kritik am Freitag sei
die Gefahr geringer geworden, dass die internationale Parteinahme für
die Demonstranten von den Machthabern in Teheran als Einmischung von
Feinden in interne Angelegenheiten des Iran diskreditiert werden könne.
Polenz forderte, der Westen müsse weiter deutlich machen, dass es ihm
mit seiner Parteinahme für die Demonstranten nicht um die Herbeiführung
eines Regimewechsels von außen gehe. "Die Iraner entscheiden selbst
darüber, von wem sie regiert werden", sagte er.

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses begrüßte es, dass im
Atomstreit mit Teheran das Verhandlungsangebot der internationalen
Gemeinschaft auf dem Tisch bleibe. US-Außenministerin Hillary Clinton
hatte am Donnerstag erklärt, sie mache Teheran trotz der Niederschlagung
der Proteste weiter das Angebot zu einer Zusammenarbeit.

Der neue Chef des iranischen Atomprogramms, Ali Akbar Salehi, schlug im
Atomstreit mit dem Westen unterdessen einen versöhnlichen Ton an. Er
hoffe auf eine Lösung des Streits um das Nuklearprogramm seines Landes,
sagte der frühere Gesandte bei der Internationalen Atomenergiebehörde
IAEO im iranischen Staatsfernsehen. Die Anfeindungen zwischen den
Supermächten und dem Iran in den vergangenen Jahren müssten ein Ende
haben. Jetzt seien Bemühungen nötig, den Konflikt durch gegenseitiges
Vertrauen beizulegen. Salehi ist allerdings nur für die technischen
Aspekte des Programms zuständig. Politische Entscheidungen dazu werden
auf höherer Ebene gefällt. mit dpa

(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 19.07.2009)

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Leitglosse
Die Farbe Grün
Von Wolfgang Günter Lerch

Die Glut unter der Asche ist jederzeit wieder zu entfachen. Das hat das
mit großer Spannung erwartete Freitagsgebet auf dem Gelände der
Teheraner Universität gezeigt, bei dem diesmal Ali Akbar Rafsandschani,
der Vorsitzende des mächtigen Expertenrates, predigte. Tausende Anhänger
Mir Hussein Mussawis, des offenkundig bei den Präsidentenwahlen durch
Manipulation "unterlegenen" Kandidaten, drängten sich in der Innenstadt
zusammen und forderten "Azadi" - Freiheit. Anders als vor zehn Jahren,
als der populäre Präsident Chatami gegenüber den Hardlinern des Regimes
einknickte, lässt sich die Opposition diesmal nicht einschüchtern und
nicht unterkriegen. Die Farbe Grün - ihr politisches Markenzeichen -
wird so schnell nicht aus der Öffentlichkeit verschwinden. Mussawi hatte
seine Ankündigung, er werde zum Gebet kommen, wahr gemacht, auch wenn er
nicht in der ersten Reihe saß.

Rafsandschani ist alles andere als eine Lichtgestalt der Islamischen
Republik Iran. Doch dass er Freiheit für die politischen Gefangenen
verlangte und dazu aufrief, über den Ablauf der Wahl öffentlich zu
debattieren, bedeutet schon etwas. Die Führung, so sein Vorwurf, sei
nicht tolerant gegenüber dem eigenen Volk. Das war Rafsandschani früher
zwar auch nicht, sondern allenfalls pragmatisch, aber er bringt sich mit
solchen Stellungnahmen in einen Gegensatz zu seinem schärfsten
Widersacher, dem "wiedergewählten" Staatspräsidenten Mahmud
Ahmadineschad, und auch zum Revolutionsführer Ajatollah Ali Chamenei,
der am Freitag seinen siebzigsten Geburtstag beging.

Auch Rufe "Tod dem Diktator!" waren in Teheran wieder zu hören. Damit
ist Ahmadineschad gemeint. Der Ruf adaptiert und variiert Slogans, die
bisher gegen den Westen gerichtet waren: "Tod Amerika!", "Tod England!"
und andere. Dem wenig beliebten, doch machtbewussten und intelligenten
Rafsandschani ist klar, dass nur ein gewisses Zugehen auf die Opposition
der Konfrontation die größte Schärfe nehmen kann. Der von Chamenei
verfolgte Kurs zugunsten Ahmadineschads hat dagegen die Polarisierung
vertieft. Natürlich will ein Rafsandschani das System, zu dessen
Profiteuren er gehört, wie alle, die es seit dreißig Jahren tragen,
nicht gefährden. Mit einer Freitagspredigt ist es nicht getan. Man wird
sehen, ob die Inhaftierten freikommen und ob tatsächlich noch eine
Debatte über die Wahl geführt wird.

Text: F.A.Z., 18.07.2009, Nr. 164 / Seite 1

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taz 18.07.2009
Der Widerstand im Iran lebt und die Krise ist nicht gewaltsam zu lösen
Rafsandschanis Zwischenlösung

KOMMENTAR VON BAHMAN NIRUMAND

Es gibt in der Geschichte Augenblicke, die für das Schicksal eines
Landes von entscheidender Bedeutung sein können. Seitdem bekannt wurde,
dass der ehemalige Staatspräsident Haschemi Rafsandschani beim
Freitagsgebet die Predigt halten würde, rätselte man im Iran und wohl
auch im Ausland darüber, was der gewiefte Politiker, Pragmatiker und
Machtmensch wohl sagen könnte und würde.

Würde er mutig genug sein, den Wahlbetrug anzuprangern und Neuwahlen zu
fordern, das brutale Vorgehen gegen die Demonstranten verurteilen und
die Freilassung der Gefangenen fordern? Oder würde er klein beigeben,
als Schlichter, als Retter des Gottesstaates auftreten und die
verfeindeten Fronten zur Versöhnung rufen?

All jene, die an den Protesten teilgenommen hatten, knüpften ihre
Hoffnung nun an die Worte eines Mannes, der wie kein anderer im Iran
verhasst ist, der jedoch mächtig genug wäre, zu sagen, was gesagt werden
muss, und damit in der Lage wäre, das Blatt zugunsten der demokratischen
Bewegung zu wenden.

Rafsandschani stand unter starkem Druck, sowohl seitens der Machthaber
wie auch seitens der Protestbewegung. Die gesamte rechte Presse warnte
ihn vor den Folgen einer möglichen Stellungnahme zugunsten der
Opposition, ihm und seiner Familie wurde mit gerichtlicher Verfolgung
gedroht. Warnungen gab es sicher auch hinter den Kulissen. Doch hätte er
zu allem, was in den letzten Wochen vorgefallen war, geschwiegen, hätte
er seine Autorität gänzlich verloren.

Er fand eine Zwischenlösung, sprach von einer tiefen Staatskrise,
kritisierte das Vorgehen gegen die Demonstranten, indirekt auch
Revolutionsführer Ali Chamenei, und forderte die Freilassung der
Gefangenen, verzichtete jedoch auf die Forderung nach Wiederholung der
Wahlen.

Insgesamt lässt sich von einem kleinen Sieg der Opposition sprechen.
Denn nicht nur Rafsandschanis Äußerungen, sondern auch die Tatsache,
dass wieder hunderttausende Demonstranten trotz massiven Einsatzes von
Ordnungskräften wieder auf die Straße gingen, machten deutlich, dass der
Widerstand im Iran weiterlebt und dass der Krise nicht mit Gewalt
beizukommen ist.

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Frankfurter Rundschau 18.06.09

Leitartikel
Das Gebet des anderen Iran

Es sind die Tage der Entscheidung über das künftige Schicksal Irans.
Massenproteste und die religiöse Unterstützung für die Opposition
treiben das Regime in die Enge.
KARL GROBE

Tränengas, Schlagstöcke, Verhaftungen - das sind unübliche
Begleiterscheinungen eines Freitagsgebets, wenngleich Teheran derlei
seit den ersten Protesten gegen die Präsidentenwahl schon erlebt hat.
Das Besondere an diesem Freitag war der Auftritt des so lange
schweigsamen Ali Akbar Haschemi Rafsandschani. Diesmal sprach der
Ex-Präsident und mächtige Vorsitzende eines Expertenrats, der den
Obersten Religionsführer absetzen kann, deutliche Worte - und die
oppositionellen Kandidaten Mir Hussein Mussawi und Mehdi Karubi hörten
ihm zu.

Rafsandschani hat eindeutig Partei genommen für den nach allem Anschein
um ein respektables Wahlergebnis betrogenen Mussawi. Seine Predigt zeigt
die Spaltung der klerikalen Machtelite, zu der Rafsandschani und die
oppositionellen Kandidaten der Juni-Wahl unbestreitbar seit den ersten
Tagen der Islamischen Republik gehören. Es sind nicht die einzigen
deutlichen Signale. Der greise Ayatollah Montazeri, dessen religiöses
Ansehen das des (noch?) herrschenden "Obersten Rechtsgelehrten" Ali
Chamenei weit übertrifft, hatte vorher zum Ungehorsam aufgerufen. Die
Mehrheit der Ayatollahs in Ghom, der heiligen Stadt, hatte es peinlich
vermieden, die Wahlergebnisse anzuerkennen. Damit ist Chamenei und
wenigstens indirekt Mahmud Ahmadinedschad die religiöse Legitimation
entzogen.

Das gilt erst recht politisch. Der Zustrom zum Gebet in der Teheraner
Universität hatte sich zur umfangreichsten Demonstration seit den
Junitagen nach der Wahl entwickelt; verstummt sind die Protestrufe ja
nie. Seit der Wahlkampagne, die in sich bereits eine Kulturrevolution
bedeutete, hat die iranische Gesellschaft sich verändert, indem sie sich
ihrer Vielfalt jenseits der verordneten Scheuklappen-Ideologie bewusst
wurde. Sie hat nicht aufgehört, islamisch, genauer: schiitisch zu sein.
Die geistliche Führung aber - abgesehen vom Klüngel um Chamenei und
Ahmadinedschad - bezieht sich auf jene anderen, absichtlich
verschütteten Quellen der Religion, die eine direkte Herrschaft des
Klerus, also dessen Diktatur, als unvereinbar mit der Lehre ablehnen.

Um einen Konflikt über die Auslegung der schiitischen Lehre, die
traditionell für Auslegung und Neuerung offen ist, handelt es sich
jedoch längst nicht mehr - allenfalls in dem Sinn, dass die Gesellschaft
sich ihrer Struktur und ihrer Widersprüche zuerst in religiösen
Begriffen inne wird. Es ist Machtkampf. Und es ist nicht sicher, dass er
auf die Hauptstadt begrenzt (und dort entschieden) wird.

Wie sich die Revolutionsgarden - Elitetruppen - und die von ihnen
gelenkten Bassidsch-Trupps verhalten werden, kann gerade deswegen
entscheidend sein. Einerseits sind sie auf das konkrete Regime und
seinen obersten Vertreter verpflichtet, je fanatischer beider Sache, je
geringer ihr politisches und allgemeines Wissen ist. Andererseits sind
sie Teil der Gesellschaft, zu einem guten Teil der ärmsten Schichten.
Ahmadinedschad hat sie mit Versprechen eingefangen, die nachhaltig
einzulösen unterblieben ist. Den wachsenden Mittelstand und den höher
gebildeten Nachwuchs hat er mit seinem burschikosen Rigorismus hingegen
verprellt.

Iran hat gegenwärtig einen größeren Anteil von Studentinnen und
Studenten als je in seiner Geschichte - und sechzig Prozent der
Studierenden sind Frauen. Die akademische Befreiung und Mobilisierung
des Denkens stößt mit Frauenunterdrückung, Schleierzwang und Segregation
bis zur Geschlechtertrennung in Fahrstühlen und Bahnen hart zusammen.
Das emanzipatorische Element überwiegt; das ist einer der Inhalte der
Kulturrevolution. Bassidsch und Gardisten gehören derselben Generation
an. Aus ihren Familien kommen Protestteilnehmer; mehr noch, nämlich
mittelständische, junge Männer dienen in der regulären Armee; und gerade
die sind mittlerweile so unzuverlässig in den Augen der Regierer, dass
sie gegen Demonstranten kaum mehr eingesetzt werden.

Wie tief diese Spaltung der städtischen Gesellschaft geht, wird sich in
den nächsten Tagen zeigen, wenn die Auseinandersetzung die Dörfer und
die nicht-persischen Minderheiten erreicht - gerade die Aserbaidschaner,
die Landsleute Mussawis, sind stolz auf ihre bürgerlich-revolutionäre
Tradition. Dann ist das bisherige Regime nicht mehr zu halten, es sei
denn um den Preis eines sehr blutigen Bürgerkriegs. Nicht Rafsandschanis
Freitagsgebet hat Iran in eine ungewisse Zukunft gestoßen; vielmehr hat
das Regime seine Zukunft verspielt.

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Berliner Zeitung 18.07.2009
IRAN
Kritik vom zweiten Mann im Staat
Martina Doering

Der Mann trägt den weißen Turban und die teure Ajatollah-Robe mit
Eleganz und macht den Eindruck eines gemütlichen, harmlosen Großvaters.
Für die eigenen Enkelkinder wird Ali Akbar Haschemi Rafsandschani, 75,
das wohl auch sein. Als Politiker im iranischen Machtgefüge aber ist er
weder gemütlich und schon gar nicht harmlos. Im Iran gilt er als
Königsmacher und graue Eminenz mit vielen Gesichtern. Zurzeit zeigt er
wieder einmal das eines pragmatischen Reformers: Er unterstützte die
Kandidatur von Mir Hussein Mussawi bei der Präsidentschaftswahl,
positionierte sich im Streit über den vermuteten Wahlbetrug gegen den
obersten Revolutionsführer Ali Chamenei und verschwand dann kurz von der
politischen Bühne.

Am Freitag tauchte er wieder auf und hielt die Predigt beim
Freitagsgebet in Teheran. Er forderte eine offene Debatte über die
umstrittene Wahl, sprach von einer politischen Krise, die den Iran
erfasst habe und verlangte die Freilassung der Inhaftierten. Zugleich
rief er aber auch die Mussawi-Anhänger zur Zurückhaltung auf. Die
Zusammenstöße zwischen Demonstranten und der Polizei nach dem
Freitagsgebet konnte er nicht verhindern. Doch Auftritt und Rede haben
ihn seinem großen Ziel ein gutes Stück näher gebracht: Er selbst will,
so wird ihm nachgesagt, oberster Revolutionsführer werden.

Mit 14 Jahren begann der Sohn eines Landbesitzers seine Religionsstudien
in der heiligen Stadt Qom, wurde Schüler von Ajatollah Khomenei,
beteiligte sich an dessen Seite am Widerstand gegen den Schah.
Rafsandschani war es, der Khomeneis designierten Nachfolger Ajatollah
Montaseri zu Fall brachte, weil dieser die Gewaltexzesse verurteilt
hatte, und den weniger qualifizierten, aber linientreuen Ali Chamenei
zum Revolutionsführer machte.

Rafsandschani hat nahezu alle wichtigen Posten bekleidet, die die
Islamische Republik zu vergeben hat: Er war Präsident des Parlaments,
Oberbefehlshaber der Streitkräfte und zwei Mal Staatschef. Als er 2005
noch einmal bei Präsidentschaftswahlen antrat, unterlag er jedoch dem
damals fast unbekannten Mahmud Ahmadinedschad. Zwei Jahre später wurde
er Vorsitzender des mächtigen Expertenrates, der den obersten
Revolutionsführer bestimmt. Auch wirtschaftlich hat Rafsandschani
profitiert: Ihm und seiner Familie gehören ein Wirtschaftsimperium samt
Pistazienhandel-Monopol.

Im Iran steht sein Name für maßlose Bereicherung und Vetternwirtschaft.
Im Westen wird er wegen seiner wirtschaftsliberalen Ansichten, seines
Plädoyers für eine Annäherung an die USA als Reformer betrachtet -
obwohl er Drahtzieher des Mykonos-Attentats gewesen sein soll und als
Präsident die Mordserie an iranischen Intellektuellen befohlen haben soll.

Sein Ruf als Reformer war zuletzt schon etwas angestaubt. Durch die
Parteinahme für Mussawi hat Rafsandschani ihn erneuert.

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Rafsandschani fordert Freilassung von Oppositionellen
Großdemonstration in Teheran / Debatte über Präsidentenwahl verlangt

cho. FRANKFURT, 17. Juli. In der iranischen Hauptstadt Teheran hat am
Freitag zum ersten Mal seit der Niederschlagung der Proteste nach der
umstrittenen Präsidentenwahl vor einem Monat wieder eine große Zahl von
Menschen gegen den amtierenden Präsidenten Mahmud Ahmadineschad
demonstriert. Augenzeugen sprachen von Zehntausenden, manche sogar von
Hunderttausenden von Demonstranten, die trotz der massiven Präsenz von
Sicherheitskräften in das Stadtviertel um die Universität kamen, wo der
ehemalige Präsident Ali Akbar Haschemi Rafsandschani die Freitagspredigt
hielt.

In Anwesenheit von Oppositionsführer Mir Hussein Mussawi stellte sich
Rafsandschani, der sich seit der Wahl nicht öffentlich zu Wort gemeldet
hatte, klar auf die Seite der Opposition. Zwar sprach er stets in der
Wir-Form im Namen des Systems - "Wir sind alle eine Familie" -, aber
seine indirekten, doch klar verständlichen Angriffe gegen den religiösen
Führer Ali Chamenei ließen die tiefe Spaltung des Systems erkennen.

So forderte Rafsandschani die Freilassung der nach der Wahl inhaftierten
Oppositionellen: "Wir sollten ihnen erlauben, zu ihren Familien
zurückzukehren." Er kritisierte die eingeschränkte Berichterstattung des
iranischen Fernsehens und prangerte die mangelnde Toleranz des Systems
gegenüber dem eigenen Volk an. Dem Wächterrat warf Rafsandschani vor,
die Frist zur Überprüfung des umstrittenen Wahlergebnisses nicht genutzt
zu haben. Er rief zu einer offenen Debatte über die umstrittene Wahl auf.

Der 75 Jahre alte Rafsandschani distanzierte sich mit der Kritik an
dessen Vorgehen seit der Wahl von Chamenei und hob zugleich in
auffälliger Weise seine Nähe zu Revolutionsführer Chomeini hervor, mit
dem er "vor sechzig Jahren" einen gemeinsamen Weg begonnen habe. Die
Opposition, der Chamenei jegliche Kundgebungen untersagt hat, nutzte das
Freitagsgebet, um ihren Widerstand gegen die von ihr als unrechtmäßig
angesehene Wiederwahl Ahmadineschads fortzusetzen. Das traditionelle
Freitagsgebet auf dem Gelände der Universität Teheran ist eine Ikone der
Revolution von 1979, ebenso wie der Ruf "Allahu akbar", der am Freitag
wieder zu hören war. (Fortsetzung Seite 2.)

Die Demonstranten, die sich mit der grünen Farbe der Opposition zu
erkennen gaben, riefen "Tod dem Diktator" und "Putschregierung, tritt
zurück!" Die Sicherheitskräfte gingen nach Augenzeugenberichten wieder
mit Schlagstöcken und Tränengas gegen die Demonstranten vor. Mindestens
15 Demonstranten seien verhaftet worden. Das Gelände um die Universität
sei von den Sicherheitskräften abgeriegelt worden, andernorts ließen sie
die Demonstranten aber offenbar gewähren.

Rafsandschani sprach in seiner Predigt, die vom iranischen Fernsehen
nicht wie gewöhnlich live übertragen, sondern lediglich im Radio
gesendet wurde, von einer "bitteren Zeit", die man als Krise bezeichnen
müsse. "Wir haben alle verloren", sagte der Vorsitzende der wichtigen
politisch-religiösen Gremien des Expertenrats und des Billigungsrats. Er
hatte seit der Wahl Gerüchten zufolge im religiösen Zentrum in Ghom
versucht, den Widerstand des schiitischen Klerus gegen Ahmadineschad zu
koordinieren.

Rafsandschani, der für seine Schlauheit und Meisterschaft im politischen
Taktieren berühmt ist, zog zwar selbst den offiziellen Wahlsieg
Ahmadineschads nicht offen in Zweifel, sprach aber davon, dass die
Zweifel eines großen Teils "unseres Volkes" beseitigt werden müssten.
Das Volk, nicht die Politiker, die er als "Diener des Volkes"
bezeichnete, seien wichtig. "Wenn die Stimmen des Volkes nicht
berücksichtigt werden, ist das keine islamische Republik."

Unterdessen wurde am Freitag in Teheran der ehemalige Gesandte bei der
Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Ali Akbar Salehi, zum neuen
Leiter der iranischen Atomenergiebehörde ernannt. Am Donnerstag war der
bisherige Leiter Gholam Resa Aghasadeh, der zu dessen Zeit als
Ministerpräsident eng mit Oppositionsführer Mussawi zusammengearbeitet
hatte, zurückgetreten.

Text: F.A.Z., 18.07.2009, Nr. 164 / Seite 1

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Iran: Sicherheitskräfte verhaften Demonstranten
Regimegegner gehen wieder auf die Straße
Hunderttausende strömen zur Freitagspredigt von Ex-Präsident
Rafsandschani, der die Regierung scharf attackiert

Teheran - In Iran sind die Massenproteste der Opposition wieder
aufgeflammt. Hunderttausende versammelten sich rund um die Teheraner
Universität zur Freitagspredigt des einflussreichen Ex-Präsidenten
Haschemi Rafsandschani, der Oppositionsführer Mir Hussein Mussawi
unterstützt. Rafsandschani rief die Regierung auf, inhaftierte
Oppositionelle freizulassen, die bei den Demonstrationen nach der
umstrittenen Präsidentenwahl im Juni verhaftet worden waren. Die
Sicherheitskräfte griffen laut Zeugen hart durch.

Mit ungewöhnlich deutlicher Kritik fordert Rafsandschani auf
beispiellose Weise das konservative Establishment um den Geistlichen
Führer Ali Chamenei heraus. Er sprach von eindeutigen Verstößen bei der
Wahl und stellte das offizielle Endergebnis in Frage, wonach Amtsinhaber
Mahmud Ahmadinedschad die Abstimmung gewonnen hat. Zugleich verlangte er
von der Regierung, sie müsse die Zensur lockern. "Unsere Hauptaufgabe
ist es, das Vertrauen des Volkes wiederzugewinnen", sagte Rafsandschani,
Deshalb müsse die Regierung inhaftierte Demonstranten freilassen. "Wir
müssen uns gegenseitig tolerieren", ergänzte er.

Rafsandschani warf Ahmadinedschad und Chamenei vor, gegen den Geist der
Revolution zu verstoßen und die Werte der Islamischen Republik zu
missachten. Als erster hoher Vertreter der politischen Klasse sprach er
zudem von einer Krise, die Iran erfasst habe. "Wir sind alle Mitglieder
einer Familie. Ich hoffe mit dieser Predigt, dass wir diese schwere
Phase hinter uns bringen, die durchaus als Krise bezeichnet werden
kann", sagte Rafsandschani, der im Wahlkampf den unterlegenen
Reformkandidaten Mir Hussein Mussawi unterstützt hatte und als einer der
einflussreichsten Politiker Irans gilt. Die Opposition nutzte das Gebet
zu Protesten, da Demonstrationen weiter verboten sind. Auch Mussawi nahm
teil, es war sein erster Auftritt seit Wochen.

Im Umkreis von drei Kilometern um die Universität hatten sich
Hunderttausende Demonstranten versammelt, unter ihnen viele Anhänger
Mussawis, die als Zeichen des Protests wieder Grün trugen. Sie riefen
Parolen wie "Tod dem Diktator!" oder "Ahmadinedschad, tritt zurück!".
Entlang der großen Kargar-Straße trugen Hunderte Demonstranten ein
riesiges grünes Tuch als Zeichen ihrer Unterstützung für Mussawi.
Allerdings gelang es nur einigen tausend, die Universität zu erreichen,
wo Rafsandschani auftrat. Ein Großaufgebot von Polizei und
Freiwilligen-Milizen riegelte das Gelände ab. Nach Angaben von
Augenzeugen feuerten die Sicherheitskräfte mit Tränengas und
Gummigeschossen und nahmen etliche Demonstranten vor der Universität
fest. In anderen Berichten war sogar von Straßenkämpfen die Rede. Bei
den Kundgebungen weiter entfernt von der Universität griff die Polizei
zunächst offenbar nicht ein. Verlässliche Angaben darüber gab es nicht,
weil unabhängige Berichterstatter nicht zugelassen waren.

Präsident Ahmadinedschad ernannte laut der amtlichen Nachrichtenagentur
Irna den ehemaligen Botschafter des Landes bei der Internationalen
Atomenergiebehörde (IAEA), Ali Akbar Salehi, zum neuen Chef des
iranischen Atomprogramms. Er folgt auf Gholamresa Aghasadeh, der am
Donnerstag nach zwölf Jahren im Amt zurückgetreten war. Die Ernennung
ging der Neubildung der Regierung voraus, die für den kommenden Monat
erwartet wird. In Brüssel beriet die EU darüber, ob sie neue Strafen
gegen Iran verhängt, um die Freilassung eines iranischen Mitarbeiters
der britischen Botschaft sowie einer Französin zu erreichen. Die
Entscheidung wurde aber auf Montag vertagt. Zur Diskussion standen etwa
Einreiseverbote gegen Mitglieder der Regierung in Iran. (Seite 4)SZ

Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.163, Samstag, den 18. Juli 2009 , Seite 1

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dpa-Meldung 17.07.2009

Merkel fordert Meinungsfreiheit im Iran =

  Nürnberg (dpa) - Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat das
Vorgehen gegen Oppositionelle im Iran scharf verurteilt. «Gebt Ihnen
die Meinungsfreiheit, so wie wir sie kennen!», sagte Merkel am
Freitag beim CSU-Parteitag in Nürnberg. Dazu fordere sie die
Machthaber auf. Viele, die im Iran auf die Straße gingen, seien
wahrscheinlich verhaftet, verletzt, vielleicht sogar getötet worden.
Es sei das Vermächtnis der friedlichen Revolution und der
Wiedervereinigung von Deutschland, auch in anderen Regionen der Welt
für Freiheit einzutreten. Hunderttausende Oppositionelle nutzten im

Iran das Freitagsgebet zu neuen Protesten gegen die Regierung.
dpa vr yydd n1 uk
171704 Jul 09